Es ist ok, Angst zu spüren

Du atmest flach, stossweise. Dein Puls rast und dein Herz klopft wie wild und scheint demnächst komplett aus dem Takt zu geraten. Gleichzeitig spannt sich ein eiserner Ring um deinen Brustkorb und droht dich zu erdrücken. Flackernder Blick, schweissnasse Hände. Tausend Gedanken, die dich blockieren und der Boden tut sich auf. Dein Denken wird irrational, unsachlich, zwingt dich in die Knie und lässt dich erstarren. Nein, es ist kein Säbelzahntiger, der sich vor dir aufbaut und dich zu seinem Nachtmahl auserkoren hat. Du lebst im 21. Jahrhundert, bist zivilisiert. Das Keulenschwingen haben deine Vorfahren erledigt. Und trotzdem kennst du dieses Gefühl? Ich… ja. Es ist nicht mein Dauerbegleiter. Doch es gibt sie, die Momente in meinem Leben, in denen die Dramaqueen das Zepter übernimmt und mich in ein zitterndes Etwas verwandelt.

Das Spannende ist ja, dass die Gedanken um die Angst schlicht und einfach ein Konstrukt meines Geistes sind. Denn, wie bereits gesagt, da steht kein Tiger vor mir, der die Zähne fletscht und mich verspeisen will. Es ist viel mehr die Vorstellung in meinem Kopf, was alles passieren könnte, die Panik auslöst. Das Gefühl der Angst per se ist nichts Schlechtes. Der Körper reagiert auf eine Situation und will uns lediglich sagen: «Hei, pass auf. Da könnte etwas auf dich zukommen, das dich fordert.» Meine Sensoren sind da (zum Glück) feiner eingestellt, als noch vor einigen Jahren. Die passende Reaktion: «Danke, ich werde achtsam sein.» In vielen Fällen gelingt mir das heute auch. Und trotzdem ertappe ich mich immer mal wieder, dass ich reinrassle. Dann nämlich, wenn ich versuche, meine Angst abzuwürgen. Indem ich mich selbst mit positiven Durchalteparolen therapiere und die Gefühle negiere, die da auftauchen. Funktioniert nur bedingt. Denn nachts, wenn alles Dunkel ist, schleicht sich der Tiger in Form von wirren Gedanken wieder an. Seine Augen funkeln und ich spüre seinen heissen Atem an meinem Ohr. Jetzt fühlt es sich tatsächlich so an, als wolle er mich fressen. Und dieses Gefühl ist gelinde gesagt Scheisse und raubt mir den Schlaf. Kürzlich bin ich wieder mit Anlauf in eine solche Situation geraten. Der Auslöser sind ein paar Zeilen auf einem Blatt Papier, die ich so nicht auf Anhieb verstehe. Panik kommt auf. Gedanken wie «Ich kann das nicht. Das schaff ich nicht. Ich verstehe das nicht», kreisen in meinem Kopf. Blockieren mich und machen mich unfähig, überhaupt einen klaren Satz zu formulieren.

Früher war meine Strategie, dass ich die Angst nicht gefühlt, sondern weggedrückt oder wegtrainiert habe. Ein Burnout und viele Stunden Selbsterkenntnis später bin ich soweit vorbereitet, dass ich meine Notfallszenarien hab. Ich weiss, dass es mir ungemein hilft, mich mitzuteilen. Hinzustehen und zu sagen: «Du, ich hab da grad ein riesiges Fragezeichen. Gelinde gesagt, ein Brett vor dem Kopf. Kannst du mir kurz helfen, das zu sortieren?». Früher hatte ich immer den Anspruch an mich, alles alleine zu schaffen. Heute weiss ich, dass ich das weder muss noch kann. Und es tut ungemein gut, sich das einzugestehen. Ich hab wunderbare Menschen um mich, die mir in solchen Momenten beistehen. So auch in diesem Fall. Ich wähle die Nummer und werde geholfen. Ruhig, sachlich und mit klarem Verstand führt meine Gesprächspartnerin mich durch mein Gedankendickicht und hilft mir, meinen Berg in kleine Etappen zu unterteilen. Und auf einmal sehe ich wieder klar. Ich weiss, was ich tun will. Ich weiss, wohin die Reise geht. Und vor allem weiss ich, dass ich fähig bin, diese Aufgabe zu lösen. Realitätscheck, nennt man das auch. Das, was mir vor ein paar Minuten noch übermächtig erschien, wird zu einer gelungenen Herausforderung. Etwas ausserhalb der Komfortzone vielleicht. Aber so, dass ich mich damit wohlfühle und weiss, dass ich den Gipfel erreiche.

Ich bedank mich überschwänglich bei meiner «Retterin» und nenn sie beim Abschied Perle. Worauf sie antwortet «Ach was, das bist du doch auch. Es ist ein Geben und Nehmen. Lass uns doch einfach eine Perlenkette sein.» Welch schöner Ansatz: Eine Perlenkette gegen den Säbelzahntiger und lähmende Gedankenkonstrukte.

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