Herdentiere

Freitag, kurz vor Feierabend. Ich habe einen Augenblick, bevor meine nächste Sitzung beginnt. Schlendere vom Parking in Richtung Stadt und laufe an einem Kaufhaus mit Restaurant vorbei. Oh, spannend. Noch schnell einen Kaffee trinken und etwas Ruhe geniessen. Das mit dem Kaffee klappt bestens. Die Ruhe kann ich mir jedoch abschminken. Wäre ja auch gelacht. Mitten in der Stadt eine Oase der Stille zu erwarten ist in etwa gleich utopisch, wie eine grosse Party im Vatikan. Obwohl ich mir, ohne die Obrigkeit irgendwie angreifen zu wollen, gut vorstellen kann, dass es auch dort hin und wieder ganz schön kracht. Ich mein, die müssen doch auch leben. Irgendwie … Stehe an der Kasse und will meinen Kaffee bezahlen. Hinter mir ein Herr mit Schnauzer. Auf seinem Tablett befindet sich das klassische Männermenu. Fleisch mit Beilage. Aber, bei Gott, ohne Grünzeug. Und, ganz nett, ein kleines Fläschchen Wein. Weiter nicht ungewöhnlich. Was mich jedoch etwas erstaunt ist die Tatsache, dass er das Fläschchen enthauptet und in einem Zug in seinen Rachen kippt, bevor er überhaupt Platz genommen hat. Seine tägliche Ration? Oder ein Bruchteil seines Tagespensums? Ich weiss es nicht. Und es ist auch egal. Schnappe mir meinen Kaffee und will mich in die hinterste Ecke verkriechen.

Laufe dabei an einem Tisch vorbei. Eigentlich an ein paar Tischen. Aber dieser Tisch sticht ins Auge. Drumherum sitzen gefühlte 18 Kinder und zwei Mamis. Ein Mami ist ganz gut beleibt und wohl genährt. Das andere sieht aus, als ob es seine Tagesportionen an die Kinder verteilen würde. Und – dringend Urlaub gebrauchen könnte. Die Wohlgenährte verputzt munter ein fettes Stück Schwedentorte, dieses fiese Gebäck mit Buttercrème und einem Überzug aus grünem Marzipan. Für mich ein Rätsel. Wie kann man dieses grüne Etwas überhaupt als Speise bezeichnen? Die Dame vis à vis, die Schattengestalt, nuggelt an einem Glas Mineralwasser. Und ich habe das Gefühl, sie überlegt, ob die Kohlesäureblasen nicht doch vielleicht Kalorien haben. Sie täte gut daran, mit ihrer Nachbarin zu tauschen. Nicht die Figur. Aber die Nahrungsaufnahme. Zumindest für diesen einen Moment. Ich wünsch ihr sehnlichst ein paar Kilos mehr auf den Rippen.

Weiter hinten steht mein Tisch. Er wartet förmlich auf mich. Setze mich auf mein Stühlchen, Ohrstöpsel rein. Kaffee zur Hand und in Gedanken abtauchen. Jäh wird mein Plan durchkreuzt.  Da kommt eine Horde grölender Jugendlicher. Jungs, eigentlich. Nicht eben motiviert, wie sie durch den Gang schlurfen. Alle mit ihren Dakine Rucksäcken am Rücken. Oder besser an den Knien. So siehts zumindest von hinten aus. Eine Hose, deren Bund irgendwo zwischen Hüfte und Knie sitzt. Unterhosen, die inzwischen so selbstverständlich zum Outfit gehören, wie das Überkleid (Nicht, dass man früher keine Unterwäsche getragen hätte. Aber vielleicht nicht ganz so offensichtlich). Alle mit einer Bierflasche bewaffnet, Gruppenschiffen im Männerklo, oder was? Dass Mädels in Rudeln die Damentoilette aufsuchen, war mir klar. Dass Jungs das auch tun, ist mir neu. Auch da scheint die Emanzipation Einzug zu halten. Oder warum sonst übernehmen Männer Verhaltensweisen von Frauen? Gut, in Rudeln sind sie oft unterwegs um Stärke zu demonstrieren. Aber zusammen aufs Klo? Oder geht da das Kräftemessen erst richtig los? Ich mag gar nicht daran denken, was in den heiligen Hallen, genannt Pissoirs, abgeht.  Die Horde verschwindet hinter der Tür und es kehrt wieder etwas Ruhe ein. Zumindest für einen kurzen Augenblick. Die Pubertierenden blasen zum Rückzug. Nicht etwa ruhig und friedlich. Weit gefehlt. Was sich dann abspielt, übersteigt mein Vorstellungsvermögen. Oder, kommt da der Urinstinkt wieder zum Vorschein? Stellen sie sich vor die Theke mit den warmen Speisen. Fischen Fleisch aus dem Behälter und verspeisen es vor den Augen der verdutzten Dame dahinter. In Anbetracht der Tatsache, dass bei einem Schnellrestaurant (oder eben Selbstbedienung) der Schwerpunkt auf schneller Bedienung und noch schnellerem Verzehr von Speisen liegt, mag man den Jungs ihr Verhalten nachsehen. Sehr pragmatischer Ansatz, ich weiss. Und, die Lady hinter der Theke ist ganz offensichtlich anderer Meinung. Ich sehe, wie diese nach Luft ringt. Und laut zeternd versucht, die Meute zu verscheuchen. Nur leider … wird sie nicht gehört und auch nicht verstanden. Die Halbstarken fühlen sich grad unglaublich stark. Ich frag mich, was denn jetzt wohl passiert. Und krieg meine Neugier auch gleich befriedigt. Chef und Security tauchen auf. Erst noch etwas grosse Klappe. „Ist doch ein Selbstbedienungsrestaurant. Von Bezahlen steht nirgends was!“. Als es dann aber ans Eingemachte geht, werden sie ganz schön kleinlaut. Und ich bin mir sicher, dass das Rudel just in dem Moment auseinanderfällt, als es darum geht, den Drahtzieher ausfindig zu machen. Jeder schiebt auf einmal dem anderen die Schuld zu. Da scheint die Emanzipation dann doch noch nicht ganz durchgedrungen zu sein. Wir Mädels halten in brenzligen Situationen zusammen wie Pech und Schwefel. Und, würden schon gar nie in solche Szenen geraten. Weil wir ja viel zu sehr damit beschäftigt sind, die Kalorien in unseren Kohlesäurebläschen zu zählen oder Schwedentorte zu vernichten – wahlweise.