Es hat dich gefunden

Ich sitze heute in diesem Writers Studio. Mein schon fast eremitenmässiges Schreiberleben braucht etwas Abwechslung. Und ich auch.

„Wie bist du denn auf das Studio gekommen?“
„Keine Ahnung. Ich hab im Web gesurft und bin über die Seite gestolpert?“
„Dann hat es dich gefunden.“
„Wie?“
„Nicht du hast es gefunden, du wurdest gefunden.“

Die Bemerkung krallt sich in meinem Kopf, irgendwo ganz hinten links, fest. Dunkle, grosse Augen aus einem wunderbar lieben Gesicht strahlen mich an. Die Stimme so hell und leicht wie ein Frühlingsmorgen.

„So viele Österreicher gehen in die Schweiz. Was bringt dich denn hierher?“
„Die Liebe. Die liebe Liebe.“
„Ja dann, dann ist alles klar. Für die Liebe würde man zum Nordpol gehen.“

Ist das wirklich so? Würde ich das tun? Diese Frage gesellt sich direkt zu „Es hat dich gefunden.“ in mein Oberstübchen und beschäftigt mich eine ganze Weile. Eigentlich bin ich ja hier, um an meinem Projekt zu arbeiten. Aber irgendwie … muss das, was sich da grad so penetrant aufdrängt, raus. Es ist wie das Gefühl am Morgen wenn man unbedingt zur Toilette muss. Ziemlich dringend. Und während ich versuche, zu schreiben. Realisiere ich, wie schnell ich mich ablenken lasse. Ja, jetzt scrolle ich seit gefühlten ewigen Minuten durch die Menus meines Laptops und suche nach diesen verflixten Anführungs-/ und Schlusszeichen. Nicht die Gänsefüsschen oben und unten. Nein, die schönen „Vorne- und Hintenklammern“. Als ob das jetzt wichtig wäre.

Meine Gedanken sind „Hase“. Kurze Sprünge, ein flinker Haken nach rechts, dann wieder nach links. Aufgeregt hoppeln sie durch den Kopf. Nordpol. Da ist es für einen Hasen bestimmt zu kalt. Oder gibt es da oben Polarhasen? So wie es Polarfüchse gibt? Ich habe keine Ahnung. W-Lan ist ausgeschaltet. Ich kann mein Halbwissen für einmal nicht mit Wikipedia vervollständigen. Muss den Gedanken um mögliche Polarlebewesen wohl oder übel loslassen. Oder ich verbeisse mich darin, im Wissen darum, dass dann gar nichts mehr geht. Dass dann aus dem Hasenhaken eine Hähnchenkeule wird. Aber eine, die mich ins geistige K.O. befördert. Wo war ich? Beim Nordpol und der Liebe. Möglich, dass ich für die Liebe an den Nordpol fahren würde. Aber, ganz ehrlich, bin ich froh, dass es „nur“ Österreich ist.

Die dunklen Augen strahlen noch immer. Diese liebliche Person leuchtet von innen.  Zierlich und kraftvoll, so erscheint sie mir. Sie arbeitete an einem Buch. Aber dann kam das Baby und die Zeit blieb weg. Jetzt nimmt sie sich die Zeit wieder.

„Dann hast du ein Baby?“
„Er ist schon drei. Und einen Dreizehnjährigen habe ich auch noch. Ich lebe schon länger in Wien.“
„Schön! Ich erst kurz. Und nicht in Wien selber. Wir sind ausserhalb zu Hause. Und ich habe eine Wohnung in der Schweiz. Weil ich oft nach Hause fahre. Familie und Freunde treffen, Kunden besuchen. Das Leben organisieren.“
„Ich war schon seit 8 Jahren nicht mehr daheim. Es ist zu gefährlich da. Und es macht mich traurig zu sehen, was mit meinem Land passiert. Venezuela. Ich komme aus Venezuela.“
„Oh, ok.“

Ich fühl mich grad, als ob man mir die Hähnchenkeule auf den Hinterkopf geknallt hätte. Venezuela… Dann ist sie vielleicht… geflüchtet? Ich mach hier einen auf Dramaqueen, weil ich von der Schweiz nach Österreich gezogen bin (und das ja auch noch mit Wohnoption in der Schweiz), mir meine Lieben von zu Hause abgehen. Und sie? Steht da und sagt in einer Seelenruhe, dass sie schon Ewigkeiten nicht mehr zu Hause war.

„Ja aber, du hast schon Kontakt zu deiner Familie?“
„Jetzt ja. Ich hab meine Mutter vor einem Jahr hergeholt. Ich wollte einfach nicht, dass sie noch weiter alleine in diesem gefährlichen Land lebt. Es ist zwar anstrengend, sie hier zu haben. Aber ich bin dankbar, dass es jetzt so ist.“

Der Kaffee ist fertig. Genauso ruhig, wie das dunkle Gebräu in unsere Tassen fliesst, verliert sich das Gespräch in Alltagsfloskeln. Und Jede zieht sich an ihren Arbeitsplatz zurück. Aber in mir hallt es nach. Oft mache ich aus meinen kleinen Sorgen wirklich ein Drama. Während es Menschen gibt, die ihre wirklichen Dramen mit einer Seelenruhe hinnehmen. Ein kleiner „Augenöffner“ für den heutigen Tag. Sie hat wohl schon recht, wenn sie sagt: „Es hat dich gefunden.“