Reste essen

Freitag war Wähentag. Immer. Mittags oder zum Znacht stand Wähen auf dem Speiseplan. Ich mochte diesen Fleischlosfreitag. Wenn wir nach der Schule hungrig und müde zur Tür hereinstolperten, umhüllte uns ein unglaublicher Duft. Manchmal salzig, manchmal süss, aber immer lecker. Ein Blick in den Ofen. Zuschauen, wie sich der Käse unter der Hitze knusprig braun zusammenzieht und kleine Bläschen wirft. Wie der süsse Guss einer Fruchtwähe ganz langsam eine bräunliche Farbe annimmt und das Flüssige sich in eine halbfeste Masse verwandelt. Reste gab es damals keine. Acht Mäuler die kräftig zulangten. Die einen hungrig vom langen Schulweg, die anderen von der Arbeit auf dem Bauernhof. Und sollte doch mal etwas übrig bleiben, wurde es fein säuberlich aufbewahrt. An einem Tag der Woche war „Reste essen“ angesagt. Wir liessen auf dem Mittagstisch nochmals die Tage Revue passieren und schlemmten uns durchs Buffet. So war das einfach. Lebensmittel wegwerfen – das kam nicht in Frage.

Wenn ich mir überlege, was heute aus Haushalten auf dem Abfall landet. Und dann bezahlen genau diese Wegwerf-Menschen viel Geld dafür, um sich an einem Buffet à discrétion zu bedienen. Eigentlich es bitzeli Schizophren – kann das Gleiche zu einem Nullfrankenbetrag zu Hause aufgetischt werden. Einfach mal den Kühlschrank öffnen und auf den Tisch, was noch da ist. Das wird ein Spass und weckt die Küchenkreativität. A propos Kühlschrank. In Luzern gibt es jetzt einen öffentlichen Kühlschrank. Türchen auf, Gemüse raus. Türchen zu. Ohne zu bezahlen, darf sich bedienen, wer will. Eine wirklich feine Sache. Vor allem, weil die Lebensmittel aus Geschäften in Luzern stammen. Dinge, die sonst auf dem Müll landen, finden so Abnehmer – wohl auch für budgetarme Menschen eine grossartige Idee. Spannend daran ist aber, dass sich namhafte Detailhändler an der Aktion aktuell noch nicht beteiligen wollen, können, dürfen? Klar, es ist nicht deren Ziel, Ware zu verschenken, sondern Geld zu verdienen. Aber, eigentlich wäre es ja toll, einen Teil des Marketingbudgets für solche Aktionen zu verwenden. Anstatt dann wieder mit grossem Getöse fairtrade, bio und nachhaltig produziert anzupreisen. Denn, das andere wäre wirklich nachhaltig, aus der Region und für die Region.

Seit einiger Zeit gibt es ja sogar Gemüse und Früchte unter dem Label „Unique“ zu kaufen. Gurken, Karotten, Äpfel – durch die Norm gefallen, kriegen sie eine separate Kiste. Da liegen sie dann: die zweibeinigen Karotten, die zu krummen Gurken und zu kleinen Äpfel. Separiert – die Sonderschule für Grünzeug. Und, der Preis ist die Hälfte von dem, was die «Normalen» kosten. Als ob sie weniger Nährwert hätten, nur weil das Mass nicht stimmt. Ich habe mich ertappt, wie ich selber ganz verzückt diese unförmigen Dinger gekauft und mich darüber gefreut habe. Vielleicht ein wehmütiger Ausflug in die Kindheit, als aus dem eigenen Garten viel Unförmiges kam und irgendwann als Wochenrückblick auf dem Esstisch landete. Trotzdem – es ist abartig, dass etwas, was einmal ganz normal war, durch irgendeine Bestimmung plötzlich abnormal wird. Und da beziehe ich mich nicht nur aufs Gemüse. Sondern auch auf uns Menschen.

P.S.
Food save – Neugarten
Der Kühlschrank steht im Neubad

Alles hat seine Grenzen

Es war dieser schöne Sommertag im letzten Jahr. Ich hab mich von meiner Freundin überreden lassen, mit ihr eine Biketour zu machen. Oder kam die Idee gar von meiner Seite? Erinnere mich nicht mehr so genau. Aber, an eine Szene erinnere ich mich ganz genau. Den Berg rauf gings ja noch einigermassen. Mit dem Runter hatte ich dann so meine liebe Mühe. Sprich – Angst! Wie ein aufgehetztes Kaninchen hab ich auf meinem Bike gesessen und mich an den Lenker geklammert. Ja nicht loslassen. Was die ganze Sache dann natürlich noch etwas verklemmter hat werden lassen. Meine Freundin tanzt auf ihrem Bike munter vor mir her. Umfährt mühelos Steine, nimmt jede Wurzel unter ihr Rad. Es ist ein Genuss, ihr beim Fahren zuzusehen. Es sieht so leicht und locker aus! Das muss wohl auch das kleine Mädchen gedacht haben. Die Familie, die uns entgegenkommt, beobachtet uns schon von Weitem. Und ich bin mir sehr wohl bewusst, dass ich eine kümmerliche Figur abgebe. Irgendwann entnervt vom Rad steige. Die Kleine läuft an mir vorbei und fragt ihren Paps: „Du, warum stösst die Frau das Velo den Berg hinunter. Kann sie nicht fahren?“ Nein, sie kann nicht! Ätsch!

Diese Schmach sitzt mir den ganzen Herbst über im Genick. Deshalb musste ich auch nicht lange überredet werden, als Bikeferien zum Thema wurden. Wenn nicht jetzt, wann dann? Ab in die Toscana – der Plan. Meine Freundin kennt die Gegend wie ihre Westentasche. Ist Wiederholungstäterin und leitet seit Jahren Touren. Ich habe also meinen perfekten Bikeguide mit dabei. Angekommen, Bike gefasst. Am Sonntag geht’s los mit der ersten Tour. Es soll meine Sturzparade werden. Ganz ehrlich – ich bin in meinen ganzen Jahren auf dem Rennrad nicht so viel gestürzt, wie an diesem einen Tag. Die Tour ist eigentlich sehr schön. Aber so richtig geniessen kann ichs nicht. Habe tausend Horrorszenarien in meinem Kopf. Eine kurze Pause. Bevors dann zur Sache geht. Der Canyon – alle juchzen, als es auf diese Abfahrt zugeht. Ich stehe da oben am Einstieg und kann mir beim besten Willen nicht erklären, was daran toll sein soll. Eine Spur, dass grad das Rad drin Platz findet. Jede ungelenke Bewegung führt unweigerlich zum Sturz. Und das alles in einer Steilheit, die für mich nahezu überhängend anmutet. In die Kurven schauen und in den Flow kommen. Nichts einfacher als das! Ich fahr runter. Bis zur Schlüsselstelle. Meine Freundin vor mir. „Jetzt musst du aufpassen“. Wumms! Schon lieg ich wieder am Boden. „Bist du gestürzt?“ klingts besorgt von vorne. Logo bin ich gestürzt, was denn sonst! Irgendwann wieder daheim. Arg geschunden und gebeutelt. Und ich ringe meiner Freundin das Versprechen ab, am Dienstag zur Erholung eine Rennradtour zu machen. Wellnessurlaub auf dem Rad, für mich zumindest. Trotzdem schaff ichs, mich jeden Tag aufs Neue zu motivieren. (Woran meine Freundin einen nicht unwesentlichen Anteil hat.) Und, es macht mit der Zeit so richtig Spass. Es ist ja nicht so, dass ich überhaupt nicht Radfahren kann. Aber, mit dem Renngöppel über die Strassen zu bolzen oder sich mit dem Bike durch nicht vorhandene Wege zu schlängeln, das sind Welten. Wenn erst die Technik wieder mal da ist, dann kehrt auch die Freude zurück. Gegen Ende Woche gefällt auch mir der Canyon. Fahre Singletrails und nehme Abfahrten unter die Räder, von denen ich mir nie erträumt hätte, sie mal zu fahren. Aus den anfänglichen Standartfragen: „Wo bist du? Bist du gestürzt?“ (Weil es mich wieder irgendwo in die Büsche gehauen hat.) Wurde dann irgendwann „Was, du bist auch schon da?“ Und ganz ehrlich, ein kleines bisschen Stolz bin ich schon. Sollte ich in diesem Jahr der Familie mit dem Mädchen begegnen, fahr ich nonchalant an ihr vorbei (und streck ihr vielleicht sogar die Zunge raus).

Trotzdem werde ich noch nicht übermütig. Habe ein paar gut sichtbare Mahnmale mit nach Hause genommen, die mich den ganzen Sommer über an meine unfreiwilligen Abflüge erinnern. Wie heissts doch gleich: Narben machen interessant? (Oder gilt das nur für Männer?)