Schublade

Mit zwei Jahren wollte sie die Welt erobern. Auf kurzen Beinchen, mit ungelenken Schritten begann sie ihre Umgebung zu erkunden, riss Schubladen auf und fand darin ein buntes Universum, das ihres sein sollte. Bis man ihr auf die Finger haute und sie sich nicht mehr getraute. Mit Vier sprang sie voller Freude und Begeisterung in Pfützen, liebte das schmatzende Geräusch in ihren Gummistiefeln, balancierte auf dem Gehsteig, turnte auf der Schaukel herum, bis man ihr sagte, sie solle anständig gehen und sich benehmen. Mit Sechs begann sie begeistert zu zeichnen und zu malen. Stundenlang und konzentriert, die Zungenspitze blitzte zwischen den rosigen Lippen hervor. Sie bemerkte es nicht, in ihrem Eifer. Bis man ihr sagte, sie könne nicht zeichnen, ein Elefant nicht drei Beine hätte, die Sonne kein Gesicht habe und die Blätter eines Baumes anders aussehen müssten. Mit Sieben wollte sie Sängerin werden, stellte sich vor den Spiegel und performte jeden Song, den sie kannte. Bis man ihr sagte, sie singe falsch und solle bitte mit diesem grässlichen Lärm aufhören. Mit Neun schaute sie sich jeden Abend die Serie von Anna, der Balletttänzerin. Und sie war besessen von der Idee, Tänzerin zu werden. Sie tanzte und tanzte, bis man ihr im Ballettunterricht sagte, sie sei zu klein, zu dick und zu unbeweglich, um es je zu etwas zu bringen. Mit Elf liebte sie Mathematik über alles und war sich sicher, selbst einmal etwas mit Zahlen zu machen. Sie sah sich an einer Universität dozieren. Bis man ihr sagte, sie sei ein Mädchen und hätte für solche Berufe keine Begabung. Mit Dreizehn spielte sie leidenschaftlich gerne Fussball. Sie fegte durch die Halle und nahm es mit jedem Jungen auf. Bis es eines Tages im Turnunterricht hiess: Du bist zu dick, wir wollen dich nicht in unserer Mannschaft haben. Mit Fünfzehn hatte sie nur noch einen Wunsch: Sie wollte beliebt sein. Sie wollte mehr als die zwei Freundinnen, die sie hatte. Sie passte sich so sehr an, bis sie selbst vergessen hatte, wer sie war. Und dann, viele, viele Jahre später war sie an einem Punkt, da hatte sie keine Träume mehr. Sie war konform und angepasst. Genormt, für die Gesellschaft tauglich. Und fühlt sich unendlich traurig und leer. Blickt auf ihr Leben und fragt sich: Wars das? Sie stolpert zufällig über alte Tagebücher. Liest von all den schönen Träumen, die sie begraben hat. Weil alle anderen ihr sagten, dass sie das nicht könne. Und auf einmal regt sich Widerstand in ihr. Sie zittert vor Aufregung, ihr Herz rast und sie ahnt: Es ist noch da, das kleine Mädchen, die wilde Göre, das freche Kind. Sie steht auf, und stösst sich den Kopf. Hat vergessen, dass sie noch in der Schublade sitzt, in die man sie gesteckt hat. Mit aller Kraft stemmt sie sich gegen die Rückwand, schafft es, die Lade einen Spalt zu öffnen. Licht dringt durch die Ritze, langsam, ganz langsam pulsiert das Leben wieder durch ihre Adern. Die Träume keimen wie kleine Pflanzen, behutsam. Je mehr die Träume wachsen, desto grösser wird die Luke der Schublade. Eines Tages steckt sie vorsichtig den Kopf durch den Spalt, realisiert, dass sie hinausschlüpfen kann. Lässt die Normen hinter sich, nimmt einen beherzten Sprung, hinein in ihr neues Leben. In ein Leben ohne Schubladen und voller: Du kannst das!

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