Ratschlag aus der Schublade

Sie zu übersehen, überhören ist unmöglich. Sie zu ignorieren somit auch. Mit viel Tumult besteigt sie den Bahnwagen. Die Gepäckstücke scheinen sie fast hineinzuschieben. Grösser und voluminöser als die Besitzerin selbst drängen sie sich in den Korridor und schreien nach Platz. Entnervte Augenbrauen ziehen sich in die Höhe, verächtliche Blicke kreuzen sich. Teils auch belustigt, amüsiert. Klein, zierlich, zäh hat sie schliesslich beide Füsse auf der obersten Treppenstufe platziert. Just in dem Moment, als der Schaffner die Pfeife in den Mund schiebt und das Zeichen zur Weiterfahrt gibt.Der Platz mir gegenüber ist leer. Im Sekundentakt schicke ich kleine Stossgebete zum Himmel. Bitte, heute bitte nicht. Ich will arbeiten. Nicht abgelenkt werden. Mich nicht unterhalten. Keinen Smalltalk betreiben. Einfach arbeiten. Sie schaut sich im Abteil um. Ihr Blick wandert suchend durch die Reihen. Bis sie sich in Bewegung setzt und bei mir stehenbleibt. Danke aber auch, fluche ich leise in mich hinein. Das wars dann mit der Ruhe. Ich setze meinen arrogantesten und abweisendsten Blick auf. Was tatsächlich zu funktionieren scheint. Zumindest werde ich nicht direkt angesprochen. Irgendwie, komme ich nicht umher, sie zu mustern. Die Dame füllt knapp die Hälfte der Sitzbreite. Aber mit ihrer Präsenz könnte sie ein ganzes Zugabteil in Beschlag nehmen. Der Schaffner huscht vorbei.

«Entschuldigen Sie, haben Sie Klebeband mit?»
«Nein, ich bin kein Kiosk. Ich bin Schaffner.»
«Wissen Sie denn, wo ich Klebeband bekommen kann. Normalerweise hab ich immer welches mit. Nur, heute war es etwas hektisch am Morgen. Ich habs vergessen. Dieser Brief, der muss unbedingt bei der nächsten Station in einen Briefkasten. Und die nette Dame, die mit mir in den Zug gestiegen ist, hat mir angeboten, das zu erledigen. Bloss brauch ich Klebeband.»

Der Schaffner ist schon lange weitergegangen. Sie erzählt ihre Geschichte ins Nichts. Oder schaut sie etwa mich an? Ich versinke im Sessel. Sie wuselt durch die Gänge und kehrt später, scheinbar verrichteter Dinge, wieder zurück. Zumindest trägt sie den Umschlag nicht mehr mit sich. Plumpst in den Sitz und mustert die Vorbeigehenden.

«Was für ein schöner Koffer. Nein, so bunt ist der. Herrlich! Oh, sie haben aber viel Gepäck. Eine weite Reise? Ihr Mantel, unbezahlbar schön!“

In einem Fort unterhält sie sich mit den Menschen. Aber kein Mensch unterhält sich mit ihr. Ich auch nicht. Denn, ich hab meine Schublade «schrullige Alte» schon lange aufgemacht, sie reingesteckt und dann mit Nachdruck verschlossen. Irgendwann zaubert sie ihr Mittagessen aus der Tasche. Eine Scheibe Brot, ein Stück Käse, eine Avocado. Und sie zelebriert ihr Mahl, als würde sie in einem 5-Sterne Lokal tafeln. Das fasziniert mich. Normalerweise verschlingen Menschen ihr Essen hastig, zumindest wenn sie unterwegs sind. Mein Blick ruht auf ihr. Sie scheint es zu spüren, schaut auf und lächelt freundlich.
«Jaja. Ich bin Vegetarierin. Seit meiner Geburt lebe ich ohne Fleisch. Und das ist schon eine ganze Weile. Genaugenommen 88 Jahre.»
Dass sie betagt ist, habe ich angenommen. Ein zartes Netz feiner Linien zeichnet ihr Gesicht. Aber die Augen blitzen übermütig, jung. Und, sie sitzt im Schneidersitz auf ihrem Platz. Mit 88!
«Wirklich? Spannend.» Mehr Geistreiches fällt mir dazu leider auch nicht ein. Sie nimmt es aber als Aufforderung, weiterzuplaudern.
«Ja, ich bin ein Bircher-Kind. Kennen Sie doch, Dr. Bircher–Brenner. Der Erfinder des Birchermüeslis, Verfechter der Vollwertkost und überzeugter Vegetarier. Meine Mutter war bei ihm in der Ausbildung. Und sie hat seine Lehre an uns Kindern angewandt.»
Ich rechne kurz und stelle fest, dass ihre Mutter Anfang 1900 bereits eine Ausbildung absolvierte. Zu dieser Zeit wohl eher ungewöhnlich für eine Dame. Da erstaunt es nicht weiter, dass mein Gegenüber auch eher ungewöhnlich ist.
«Wo fahren Sie denn hin?»
«Nach Genf zu meiner Tochter. Wissen Sie, ich lebe in Klagenfurt in einer kleinen Hütte ohne Heizung. Und über die Wintermonate wird es oft so kalt da drin, dass ich nicht mehr hinterherkomme mit Einfeuern. Ganz ehrlich macht mir das Holzschleppen langsam etwas Mühe. Darum ziehe ich über die ärgste Zeit zu meiner Tochter nach Genf. Haben Sie keine Kinder?»
Ihre aufmerksamen Augen mustern mich.
«Leider nein. Es hat sich nie ergeben.»
«Paperlapapp. Sie können noch lange Kinder kriegen. Die Zeiten haben sich geändert. Meine Tochter hat mit 46 zwei Kinder aus Nepal adoptiert. Und ist jetzt wunderbar glücklich.»
«Schön. Das freut mich.»
«Ja, ich hab meine Kinder schon früh zu eigenständigen Menschen erzogen. Mussten Sie auch sein. Ich habe in Moskau, in London und in Genf gearbeitet. War juristische Beraterin und habe Vorlesungen an Universitäten gehalten.»
Mir fällt die Kinnlade runter und ich öffne gleichzeitig die Schublade «schrullige Alte» wieder. Um die Dame eiligst hervorzukramen und auf einen Thron zu setzen.
«Wissen Sie, ich habs nicht so mit Ratschlägen. Weil ich selber mein Leben immer so gelebt hab, wie es für mich passte. Aber eines kann ich Ihnen mit auf den Weg geben: BGBF. Das ist die Zauberformel für ein spannendes Leben.»
«BGBF?»
«Bleib gsund, bleib frei.»
Dabei grinst sie mich schelmisch an. Die Zugfahrt vergeht wie im Fluge. Wir verabschieden uns und sie raunt mir zu: «Besuchen Sie mich mal in Klagenfurt. Sie brauchen nur meinen Namen zu nennen. Man kennt mich da.»
Das kann ich mir leibhaftig vorstellen. Ich blicke ihr noch lange nach. Wie sie am Perron entlangspaziert. Da und dort eine Bemerkung fallen lässt: «Mädchen, hübsch sehen Sie aus. Geht’s zu Ihrem Freund?» Ich sehe, wie die Menschen die Augen verdrehen und wohl auch ihre Schublade öffnen. Wenn die wüssten. Eigentlich hab ichs auch nicht so mit Ratschlägen. Aber ihrer, der scheint wirklich wirksam zu sein. Ich präg ihn mir ein: BGBF – die Zauberformel für ein spannendes Leben.

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