Gesichtergeschichten

Die Bahnstrecke von Wetzikon nach Zürich ist mir nicht vertraut. Umso mehr geniesse ich den Ausblick. Vorbei an saftig grünen Wiesen, schmucken Bauernhäusern, idyllischer Landschaft. Auch das ist Zürich – es gibt nicht nur das laute, lärmige, überfüllte. Das erwartet mich erst am Hauptbahnhof. Rushhour, jeder einzelne Platz ist besetzt. Ich mag es. Nicht, weil ich partout mit jeder Person Körperkontakt will (im ÖV ist der natürliche Höflichkeitsabstand völlig inexistent). Die anmutige junge Frau mit dem Porzellanteint, eine der wenigen Personen ohne Tablet oder Smartphone in der Hand, dafür mit einem unglaublich schönen und verträumten Lächeln. Es steht ihr hervorragend. Ihr Blick schweift in die Ferne. Ein Ausflug nach Zürich als bunter Farbtupfer in ihrem heutigen Tag. Ein kurzer Augenblick zum Anlehnen und Auftanken bei einem lieben Menschen? Mein Blick geht weiter, heftet sich an meinem Vis-à-vis fest. Ein kleiner, knorriger Mann. Er erinnert mich irgendwie an unsere alten Apfelbäume. Kurzgewachsen, von den Jahren gezeichnet aber noch voller Leben. Ich mag es, Menschen mit Höflichkeit zu überrumpeln. Ihnen ein Lächeln zu schenken, wenn sie es nicht erwarten. Also strahle ich ihn an. Er ist völlig perplex und vergräbt seine Hände tief in seiner HellyHansen. Die schweren Bergschuhe, die Lodenhose, sein Geruch – ein Landmensch. “Wohin fahren Sie denn?” “Eigentlich nach Altdorf. Ich weiss aber nicht, wie lange der Zug von Zürich nach Luzern braucht. Und ich muss dann den Anschluss erwischen.” “Keine Sorge, das schaffen Sie!” Er scheint nicht überzeugt zu sein. Alle fünf Minuten ein unruhiger Blick auf seine Armbanduhr, begleitet von nervösem Sesselrutschen. Dazwischen legt er die gefalteten Hände in seinen Schoss und dreht die Daumen.

Im Abteil nebenan sitzen müde und farblose Gestalten. Lange Arbeitstage liegen hinter ihnen. Was sie wohl beschäftigt? Mühsame Kunden, nervige Chefs. Gar eine Affäre mit der Sekretärin, die zu eskalieren droht? Ich weiss nicht, was sie so verkrampft und heruntergekämpft aussehen lässt. Wünsche mir aber für jeden einzelnen, dass er nach einer erfrischenden Dusche all den Dreck des Tages hinter sich lassen, ihn abspülen kann. Ich bleibe an einer Frau hängen. Eine interessante Dame. Trägt ihr rötliches Haar sportlich kurz geschnitten, schöne, volle Lippen und feine Lachfalten um die Augen. Sie lehnt den Kopf zurück und döst vor sich hin. Ab und zu zuckt ein Lächeln um ihren Mund. Woran sie wohl denkt? Ein erfrischendes Erlebnis während des Tages oder die Vorfreude auf ihr zu Hause? Vielleicht ein liebevoller Partner, der sie erwartet? Schräg gegenüber finde ich das genaue Gegenteil. Krampfhaft um gutes Aussehen und Eleganz bemüht. Das Haar blondiert, sehr blondiert. Die Augenbrauen bilden zwei feine, schmale Linien über ihren Augen und sehen aus, wie gespannte Pfeilbogen. Sie trägt Kleidung, die sie nicht kleidet; nichts passt zusammen. Die Schuhe sind ausgetreten und ungeputzt. Sie öffnet ihre Handtasche und nimmt die aktuellste Cosmopolitan hervor. Vielleicht träumt sie sich mit dieser Lektüre in eine andere Welt? Malt sich ihr Leben für einen kurzen Augenblick bunter? Die Strecke im Zug ist ihr Zufluchtsort. Bevor sie dann in Luzern aussteigt und die Strasse zu ihrer alten, baufälligen Wohnung entlanggeht. Meine Augen stolpern wieder über die schöne Frau ohne Tablet. Ihre geröteten Wangen … sie dreht gedankenverloren an ihrem Fingerring.

Endlich haben sie sich wieder gesehen. Es war eine Zufallsbegegnung. Die gesamte Schulzeit haben sie zusammen verbracht und sich irgendwann trotzdem aus den Augen verloren. Heiss und innig, vertraut und wunderbar, ihre Leben geteilt, ohne Geheimnisse. Und auf einmal war alles anders. Man zog aus in die weite Welt. Jeder seine eigenen Ziele und Pläne verfolgend. Viele Gedanken an die jeweils andere Person, die über Jahre irgendwo im Innern aufbewahrt und gehütet werden. Der kostbare Schatz, an dem kein Zahn der Zeit nagt. Immer mit dem Gedanken verbunden: „Irgendwann melde ich mich.“ Kaum gedacht, war wieder ein Jahr vorbei. Und dann just an diesem Montag, als sie ausnahmsweise einmal Zürich besuchte. Am Hauptbahnhof dieser eine Blick zwischen hunderten von Menschen hindurch und das Gefühl, die Zeit stehe still. Wie von fremder Hand gesteuert gehen sie aufeinander zu. „Du bist doch …“ „Ja, hei wie lange ist es her?“ „Fünfzehn, zwanzig Jahre?“ Sie liegen sich in den Armen. Und irgendwie ist alles klar. Zumindest für den Moment. „Wohin gehen wir?“ „Keine Ahnung. Ich kenne mich hier nicht aus.“ „Ok, ich kenne einen schönen Platz …“ Arm in Arm schlendern sie aus der Bahnhofshalle. Zeit und Raum verlieren an Bedeutung …

Die Lautsprecherdurchsage lässt mich aufschrecken. “Wir treffen pünktlich in Luzern ein. Ihre nächsten Anschlüsse …”

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