Berg? Zicke!

Bergzicke ohne Berg ist wie Schokolade ohne Kakao. Wie ein Auto ohne Motor. Wie ein Spielfilm ohne Happyend, ein Theaterstück ohne Hauptdarsteller, ein Kaffee ohne Kekse. Wie ein Schwimmbad ohne Wasser oder eine Ballerina ohne Prima. Schlicht und einfach nicht existent. Nicht funktionstüchtig und so gut wie unbrauchbar. Bergzicke ohne Berg ist … Zicke!

Heute will ich zickig sein. Es wird einer dieser Jammertage, alles in düsteren Farben gemalt. Obwohl ich schwarz-weiss Aufnahmen sehr mag und sie manchen Farbfotos vorziehe, bin ich mir bewusst, dass dieser Tag heute keine schöne, “ins Album kleben” würdige Aufnahme wird. Schlafen und ohne Weckerklingeln aufstehen. Ein kleiner Luxus, eigentlich. Wenn die Pläne für den Tag bunt und knallig wären. In meinem Kopf herrscht Nebel. Genau wie draussen. Trotzdem muss ich an die frische Luft. Wir humpeln los Richtung Wald (Wir sind mein Körper und meine daran befestigte Schiene). Ich bin völlig in Gedanken versunken werde aber unverhofft wachgerüttelt. Ein kleines kläffendes Biest, den Schwanz zwischen den Beinchen eingeklemmt, die Föhnfrisur aufgeregt zitternd, steht vor mir. Wegrennen geht nicht. Ich, weil ich nicht kann. Hund, weil er … auch nicht kann. Frauchen kommt schon um die Ecke geschossen. Frisurentechnisch stehen sich die beiden in nichts nach. Einmal mehr bewahrheitet sich die Aussage: Wie das Herrchen so der Hund. Oder wars umgekehrt? Die Dame macht einen freundlichen Eindruck (der Hund inzwischen auch) und will umgehend wissen, was denn mit meinem Bein sei. Ha! Ich krieg Mitleid! Rausgehen hat sich schon mal gelohnt. Wir plaudern und als ich ihr das Ding mit den Wartezeiten bei Ärzten erkläre, beginnt sie genau so aufgeregt zu kläffen, wie ihr kleiner Vierbeiner. Ich solle denen gefälligst Beine machen. Die seien schliesslich auf “unser Geld” angewiesen. Und nicht umgekehrt. “Wissen Sie, junge Dame. Diejenigen, die am lautesten bellen, werden zuerst gehört.” Stimmt. Diese Erfahrung hab ich auch schon gemacht. Und, dass ich im Lautsein schlecht bin, weiss ich. Von Bellen ganz zu schweigen. Gestärkt und ermutigt durch die netten Worte humpelt es sich schon viel leichter. In der nächsten Kurve kreuze ich einen schnittigen Porsche Cayenne. Der Fahrer macht eine Vollbremsung. Was ist denn jetzt los? “Haben Sie sich verletzt? Darf ich Sie irgendwo hinfahren?” “Nein, nein. Also, verletzt schon. Aber, ich komm auch so nach Hause. Vielen Dank!” Sein Abschiedsgruss ist so was von herzlich und freundlich, dass mir schon fast die Tränen der Rührung kommen. Hab ich erwähnt, dass meine Scheisstage auch damit verbunden sind, bei jeder Gelegenheit loszuheulen? Ein paar Takte weiter steht die nächste Begegnung an. Ein freundlicher, älterer Herr in Hut und Lodenmantel gekleidet führt seinen ebenfalls in die Jahre gekommenen Schäferhund spazieren. Sein vorsichtiges “Der beisst nicht!” hätt ich gerne mit einem zickigen “Ich schon!” erwidert. Nur, er kann ja auch nichts für meine Laune. “Gute Besserung und ein gutes Neues Jahr!” seine Abschiedsworte. Das nehme ich dankend an. Und schlurfe im Schneckentempo nach Hause. Ich weiss jetzt, wie sich die Schnecke auf der Schildkröte fühlen muss. (Frage am Rande: Was ruft eine Schnecke, die auf einer Schildkröte sitzt? Huiii!)

Irgendwann habe ich meinen Zwei-Kilometer-Marathon in Bestzeit absolviert. Einigermassen versöhnt mit mir und der Welt, zurück in der Wohnung dämmert es durch meine nebulösen Gedanken. Wär ich die Runde in meinem gewohnten Tempo und ohne Beinschiene gelaufen hätte ich keine dieser Begegnungen gehabt. Vielleicht braucht es diese Zickentage ohne Berg, damit genau solche Sachen wieder möglich sind. Also werde ich beim nächsten Anfall von Berg? Zicke! frohen Mutes loshumpeln und darauf vertrauen, dass unterwegs viele nette Helferlein warten. Und der Zicke den Berg ein bisschen näher bringen. Dann fühlt es sich nur noch halb so schlimm an. Wie Kaffee mit einem halben Keks oder ein Spielfilm mit einem offenen Schluss.