Behindert?

Es ist einer dieser bezaubernden Herbsttage. Die Sonne strahlt vom Himmel und taucht alles in warmes, goldenes Licht. Weichgezeichnet und bunt fallen die Blätter von den Bäumen. Die Luft, klar und frisch, wie sie es nur in den kalten Monaten sein kann. Ein tiefer Atemzug und ich habe das Gefühl, tausend kleine Eiskristalle tanzen in meinen Lungenflügeln. Erquickend und belebend. Das Laub raschelt unter den Füssen. Die Blätter tanzen vergnügt und ich meine zu vernehmen, wie sie kichernd wieder zu Boden kommen. In solchen Momenten fühle ich mich lebendig. Spüre, wie die Muskeln mit jedem Schritt wärmer werden. Gemütlich trabe ich um den hübschen kleinen See. In Begleitung vieler Gleichgesinnter. Menschen, die sich mehr oder weniger leichtfüssig dem Ufer entlang bewegen. Manche mit einem Lächeln im Gesicht. Andere verbissen, den Blick auf den Boden gerichtet. Ob sie hier einfach ihr Pflichtprogramm abspulen und gar nicht mitbekommen, welcher Zauber in der Luft liegt? Unvorstellbar, für mich zumindest. Meine Sinne sind hellwach und saugen alles auf, was sie sehen, riechen, spüren. Ich lebe!

Die grosse Wiese am See ist Tummelplatz für Kinder, öffentliches Klo für Hunde und Fussballfeld von ein paar Jugendlichen. Für mich ist sie das Outdoorfitnesscenter. Dehnen, recken, strecken. Völlig in Gedanken versunken spüre ich, wie jemand hinter mir steht. Ich drehe mich um und schaue in ein lachendes Gesicht. Ein paar wenige, schiefe Zähne blitzen hervor. Die Äuglein sind kleine Schlitze und haben eine eigenartige Form, die nicht nur vom Lachen kommt. Tiefe Furchen überziehen sein Antlitz. Es sind Zeichen von Emotionen, Freude. Ein Mensch, der seine Gefühle unverblümt zeigt. Sein Haar trägt er raspelkurz geschnitten und in der Hand hält er eine ziemlich abgetragene Wollmütze. Die Hose mindestens zwei Nummern zu gross und die Jacke – bestimmt nicht le dernier Crie. Aber, es scheint ihn nicht zu kümmern. „Hast du Schmerzen?“ fragt er mich. „Nein, wieso meinst du?“. „Naja, weil du dich so eigenartig verbiegst.“ Ich schmunzle leise in mich hinein. Und langsam klingelt es in meinem Hirn.Dieser Mann hat ein Handicap. Ein Mensch mit Downsyndrom. „Ich war joggen und jetzt bin ich am Dehnen.“ Jetzt grinst er noch breiter und meint, dass das wohl gesund sei. Seine Krankenschwester sage ihm auch immer, dass er das machen solle. Ob er denn mitmachen dürfe? „Aber klar doch.“ So stehen wir auf der Wiese und verrenken uns mehr oder weniger synchron. Muss ein seltsames Bild abgeben. Ich in meiner hightech Laufkleidung. Er in seinem abgewetzten Alltagsgewand. Etwas ungelenk. Aber unheimlich liebenswert. Und er plappert munter drauflos. Erzählt mir dies und das. So, als ob wir uns schon ewig kennen würden. Ein Gespräch unter Freunden, sozusagen. Irgendwann verabschiede ich mich. Er nimmt meine Hand und drückt mir, etwas ungelenk, einen Schmatzer auf den Handrücken. Ich bin einigermassen erstaunt und perplex. Und doch entlockt mir seine Handlung ein Lachen. Was ihn wiederum zum Grinsen und tanzen bringt. Er läuft weg, dreht sich nochmals um und winkt mir zu. So wie man jemandem zuwinkt, den man an einem Schiffssteg verabschiedet, bevor das Schiff ablegt.

Ich setz mich noch für einen kurzen Augenblick ins nahegelegene Restaurant und geniesse meinen Espresso. Die Begegnung hallt nach. Ich lasse jede Sekunde Revue passieren. Wie unverblümt und offen dieser Mann doch war. Wie herzlich und unvoreingenommen er durchs Leben und auf Andere zugeht. Wenn ich mir überlege, wie schwer wir uns manchmal damit tun, unser Gefühle zu zeigen. Wie sehr wir immer darauf bedacht sind, das Richtige zu sagen und zu tun. Wie oft wir uns damit selber im Weg stehen und Dinge komplizierter machen als sie eigentlich sind – dann frage ich mich doch wer denn jetzt wohl behindert ist. Er oder ich?